11. SONNTAG IM JAHRESKREIS
Evangelium nach Matthäus (9,36-10,8)
„Als Jesus die vielen Menschen sah, ergriff ihn das Mitleid, denn sie waren so hilflos und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben.“
Jesus sieht die Menschen in den Städten, in den Dörfern, in den Synagogen und um sich herum und er hat Mitleid mit ihnen: Sie sind kraftlos, mutlos, unzufrieden, unglücklich. Jesus sieht sie als Menschen, die ihren Lebenssinn und vielleicht sich selbst verloren haben.
Stellen Sie sich vor: Jesus geht heute in der Großfeldsiedlung, in Wien, in Österreich, ein Europa herum. Würde er nicht dasselbe sagen? Ist es heute nicht ähnlich? Viele Menschen sind müde und erschöpft, weil das Leben für sie so anstrengend ist. Erwachsene haben kaum noch Zeit, werden von ihren beruflichen Herausforderungen erdrückt, gestresst und gehetzt. Ein hektisches Leben.
Viele sind von einer steten Unruhe getrieben, kommen nie zur Ruhe, selbst nicht im Urlaub oder in der Freizeit. Viele Menschen strampeln sich ab, spüren aber, dass sie ihre Arbeit und ihre Freizeit nicht wirklich erfüllt. Es ist nicht die Menge, die wir zu tun haben, die uns erschöpft, sondern dass das, was wir tun, uns bisweilen nichts mehr sagt. Viele wollen an erster Stelle Geld verdienen, damit sie leben können. Aber oft ist es so: Je mehr sie verdienen, je mehr sie sich leisten können, um- so eindringlicher wird die Frage: „Ist das jetzt Leben? Was ist das Leben? Wozu lebe ich?“ Und dazu kommen oft belastende Schicksalsschläge, Krank-heiten und so weiter.
Menschen, die müde und erschöpft sind, die wie Schafe ohne Hirten sind, ohne Hirten-sorge, ohne Orientierung. „Wir wissen, was wir können. Aber wir wissen nicht mehr, was wir sollen!“, hat ein Wissenschaftler einmal gesagt. „Mache ich das, was ich tue, eigent-lich richtig? Was ist gut, was ist aber vielleicht auch nicht gut, obwohl ich es tun könnte?“ Wie Schafe, die keinen Hirten haben.
Jesus will dieser Hirte sein. Er will uns Orientierung geben für unser Leben. „Orientierung“ bedeutet nicht, dass er ganz praktische Ratschläge, sogar Rezepte gäbe. Er weist auf das Wesentliche hin, damit auch alles andere Freude machen kann.
Und Jesus sagt: „Jetzt will Gott seine Herr-schaft aufrichten, eine neue Welt, in der sein wohltuendes Wirken spürbar ist. Er will, dass die Menschen wieder lebensfroher und zufriedener werden. Sagt also den Menschen, dass sie kein Produkt des Zufalls sind. Keine Laune der Natur. Sie sind von Gott geliebte und gewollte Menschen.“
Jesus zeigt das, indem er jenen, denen er begegnet Ansehen und Würde wiedergibt – unabhängig von ihrem Platz in der Gesell-schaft. Er wendet sich gerade auch Menschen zu, die am Rande der damaligen Gesellschaft stehen - Kindern, Frauen, Zöllnern, Prostituierten, Ungelernten, Armen - und rückt sie in den Mittelpunkt der Aufmerk samkeit. Jedem Einzelnen wird die ‘Zuneigung Gottes’ zugesprochen.
Diese Begleitung, diese Orientierung, diese Hirtensorge, kann mein Leben verändern. Ich muss nicht alles allein bewältigen, ich darf zuversichtlich sein: Egal, was passiert, ich werde nicht für immer scheitern. Denn die Beziehung zu Gott schenkt mir das Vertrauen, dass er alles Unvollendete in meinem Leben vollenden wird. Selbst wenn ich scheitern sollte, wenn mein Leben zu Ende geht, schenkt er mir ein neues Leben bei sich, ein Leben, das alles Bruchstückhafte vollendet.
Jesus stärkt so das Vertrauen, vermittelt Ruhe, und lässt so das Wesentliche des Lebens spürbar werden. Jeder Mensch, wir selbst wie auch der, der fast oder schon verloren ging, braucht so einen Hirten zum Leben.
Der Wiener Philosoph Ludwig Wittgenstein hat einmal gesagt: „An einen Gott glauben, heißt sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist.“ Nicht mit den Tatsachen der Welt abgetan zu sein, ist das nicht die Grundbotschaft von Jesus, vom Reich Gottes, von dieser neuen Welt Gottes, die anfänglich jetzt schon in der heutigen Welt wirksam ist?
Das ist unsere Orientierung. Daran sollen wir uns halten, damit unser Leben gelingen kann. Dann sind wir nicht mehr die hilflosen und erschöpften Schafe, die keinen Hirten haben.